Der Duft von Zimt und Petersilie

Von Jutta Eidtmann – Betreuerin Ute Kremer hat sich heute eine Überraschung für die rote Wohngruppe im Haus Klosterfeld in Himmelpforten ausgedacht. Sie spielt mit den Frauen und Männern „Dufträtsel“. Reihum dürfen alle an kleinen weißen Döschen schnuppern. Es dauert eine Weile, aber dann werden Kindheitsbilder wach. Der Zimt erinnert an den Milchreis, der Holzgeruch an den alten Ofen, das Grasaroma an weite Wiesen.

In der Wohnküche hängt noch der Duft des Kaffees, den Präsenzkraft Ina Hagenah frisch aufgebrüht hatte. Dazu gab es Apfelkuchen mit Sahne. Kaum einer der Bewohner in der Pflegeeinrichtung, der ihn verschmähte. Und Hilde Bösch ist besonders stolz. Sie hatte die Äpfel geschält. Als gute Hausfrau muss sie ein bisschen meckern: „Da fehlt etwas Vanille.“ Hören, schmecken, spüren, riechen, fühlen – Leben mit allen Sinnen. Für die vordergründig an Demenz erkrankten Bewohner des Seniorenheims in Himmelpforten, die in der rot dekorierten Wohnküche sitzen, gilt das ganz besonders.

Hinten in der Küche klappert Ina Hagenah und räumt das Geschirr weg. „Wir heißen Präsenzkraft, weil wir immer präsent sind“, lacht die Hammaherin. Gleich wird sie noch den Waffelteig ansetzen für die obligatorischen Waffeln am Freitagnachmittag und dann das Abendbrot vorbereiten. Mit einem Kräuterquark, dessen Kräuter aus ihrem Garten stammen. Von der Petersilie hat Ute Kremer etwas gemopst. Die bindet sie prompt in ihr Duftspiel ein. Einige der schwer erkrankten Bewohner der roten Gruppe haben die Sprache schon komplett verloren, andere können noch Wörter bilden, wieder andere ganze Geschichten erzählen (oder ersinnen). Aber wenn Ute Kremer sie anspricht, sind sie alle wachsam.

Die fröhliche Mitarbeiterin hat ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Denn sie weiß immer wieder einen Bogen zu schlagen. Zu Dingen, die in der Biografie all dieser lebenserfahrenen Menschen noch präsent sind. Anders als die Gegenwart, in der sie sich nur mühevoll zurechtfinden. „Sind Sie gerne zur Schule gegangen?“, fragt Ute Kremer Lydia Jung, nachdem am Tisch der Begriff Lehrer fiel. Die erinnert sich an Begebenheiten, als sie „die Hose voll hatte“. Alle lachen. Frau Jung ist für ihre lockeren Sprüche bekannt. Die große schlanke Frau gehört zu den Bewohnern mit viel Bewegungsdrang. Aber sie hat auch den Schalk im Nacken.

Bei einem ihrer Flurgänge läuft sie Anna Meybohm über den Weg. Die Leiterin der Betreuung im Haus Klosterfeld schäkert mit ihr, nimmt sie in den Arm und ermuntert sie zum kurzen Tänzchen auf dem Gang. Körperkontakt und Zärtlichkeiten mögen fast alle Demenzkranken. Auch Dorothea Müller, die im Rollstuhl sitzt und immer wieder einnickt. Ute Kremer muss sie zum Kaffeetrinken wecken.

Man spürt, dass Kremer zögert. Doch zart streichelt sie die Wange der kleinen alten Frau. Und über deren Gesicht huscht ein ganz zauberhaftes Lächeln. Eine große rote Uhr an der Wand zeigt die Zeit an, aber hier in dieser Gemeinschaft ticken Uhren anders. Hier geht alles sehr langsam und gemächlich zu. Die Mahlzeiten gliedern den Tag, die Betreuungskräfte sorgen für Kurzweil dazwischen. Pflegekräfte kümmern sich um die Körperpflege und Toilettengänge, reichen Essen an. Und wer als WGBewohner helfen kann, hilft. Beim Kartoffelschälen, beim Eindecken oder dabei, ein Liedchen anzustimmen. Singen geht immer.

Und wer als WGBewohner helfen kann, hilft. Beim Kartoffelschälen, beim Eindecken oder dabei, ein Liedchen anzustimmen. Singen geht immer. Bewegung auch. Nach dem Dufträtsel wird es noch ein leichtes Ballspiel auf zusammengeschobenen Tischen geben, mit Erfolgserlebnissen für alle. Die sind wichtig, gerade für Bewohner mit Demenz und allzumal dann, wenn sie ihre kognitiven Einschränkungen im Anfangsstadium noch wahrnehmen. Sie zu fordern, aber auch nicht zu beschämen, ist die Kunst, die das Betreuungsteam um Anna Meybohm vollbringen muss. Ute Kremer und Ina Hagenah arbeiten auch in anderen der sieben Wohngruppen.

Aber diese rote Gruppe mit ihrer Herzlichkeit und Ehrlichkeit mögen sie besonders: „Sie tragen uns durch den Tag.“ Selbst Bettina Pralow, Leiterin der Seniorenheims, holt sich Kraft und Streicheleinheiten in dieser Wohngemeinschaft, in der auch ihre Mutter lebt. „Der Demenzkranke zeigt uns, ob wir gut mit ihm sind“, sagt die Chefin, die Einrichtungs- und Pflegedienstleiterin zugleich ist. Und: „Auch ein Leben mit Demenz kann lange lebenswert sein.“ 80 Prozent der 106 Bewohner im Seniorenheim Klosterfeld sind an Demenz erkrankt, in drei der Wohngruppen steht dieses Krankheitsbild im Vordergrund. Tendenz steigend. Aber für Heime ist das längst keine Herausforderung mehr.

Die Pflege- und Betreuungskräfte sind gerontopsychiatrisch geschult, werden ständig weitergebildet. In Himmelpforten hat die Modernisierung des Pflegeheims in Trägerschaft der Altenpflege Landkreis Stade gGmbH lange gedauert. Aber das Ergebnis stellt im Haus zufrieden. Das Wohngruppenkonzept mit Familienatmosphäre und dem eigenständigen Kochen in jeder Gruppe ist auf die Bewohner zugeschnitten und doch wandelbar. Sollte eine vierte Demenz-WG nötig sein, wird man sie schaffen können.

Stader Tageblatt – Mittwoch, 18. Juli 2018